Es ist eine der wertvollsten Reliquien der Christenheit und galt lange
als verschollen: das Tuch der Veronika. In den Abruzzen machte unser Autor
eine Entdeckung. Von Paul Badde.
Rom (www.kath.net / welt ) Wie sah Jesus aus? Etwa wie
Jim Caviezel im „Passion“-Film? Oder wie auf den Porträts
von Dürer oder El Greco, die in den Gemächern des Papstes hängen?
Sie alle haben Jesus doch nie gesehen. Wie also sah er aus? - Auf diese
Frage gibt es eine sehr, sehr alte Antwort: auf einem Tuch mit dem „wahren
Bild“ Christi, das selbst der Papst noch nie gesehen hat.
Darüber kann im Vatikan nur schwer gesprochen werden. Denn dieses
Tuchbild ist anderer Art. Bis zum Jahr 1600 wurde es in der alten Petersbasilika
Kaiser Konstantins verwahrt. Millionen haben es gesehen. Seitdem aber
hat diese „Vera Ikona“ kaum noch jemand zu Gesicht bekommen.
Im neuen Petersdom wurde das Gottesbild hinter drei Riegeln verschlossen.
Im Laufe der Zeit „sehr verblasst“
Es sei „im Laufe der Zeit sehr verblasst“, hat Kardinal Marchisano,
der Erzpriester der Basilika, die WELT wissen lassen. Es ist jedoch nicht
nur verblasst, es ist wohl auch eine Attrappe - von der es kein einziges
taugliches Foto gibt. Verehrer der Christusikone wurden deshalb zuletzt
meist auf ein anderes Bild in der Sakristei des Papstes nebenan verwiesen,
von dem es heißt, es sei das älteste der Welt.
So sieht dieses Bild auch aus. Es ist im Lauf der Zeit fast schwarz geworden
- wie viele alte Gemälde, die mit Tempera auf Leinwand gemalt wurden.
Das „wahre Bild“ Christi hat aber keine Farben. Bevor es nach
Rom kam, war es in Konstantinopel, davor im Orient, wo ein syrischer Text
aus Kamulia in Kappadokien im 6. Jahrhundert davon sprach, es sei „aus
dem Wasser gezogen“ und „nicht von Menschenhand gemalt“.
Doch als es nach Rom kam, zog es die Menschen an wie ein Magnet.
Miniaturen des Christusbildes für Rom-Pilger
Mit einer Palme schmückten sich in der ersten Hälfte des letzten
Jahrtausends die Heimkehrer aus Jerusalem. Das Zeichen der Santiagopilger
ist bis heute die Muschel. Rom-Pilger aber hefteten sich Miniaturen des
Christusbildes an ihre Pelerine, der „Sancta Veronica Ierosolymitana“:
der heiligen Veronika aus Jerusalem. Der Grundstein des neuen Petersdoms
sollte nach Papst Julius II. deshalb auch Fundament eines mächtigen
Tresors für diesen unvergleichlichen Schatz werden.
Während der Bauzeit des damals noch so umstrittenen Prachtbaus verschwand
das Bild dann aber auf mysteriöse Weise aus der Stadt. Nur ein venezianischer
Rahmen mit zerbrochenem altem Glas ist davon übrig und in der Schatzkammer
von Sankt Peter noch heute zu sehen. Verschwunden ist das Bild jedoch
nicht. Seit 400 Jahren hängt die wertvollste Reliquie der Christenheit,
vor der einst der Kaiser von Byzanz einmal im Jahr knien durfte, zwischen
zwei Kristallscheiben in einem über viele, viele Stunden völlig
leeren Kirchlein der Kapuziner in Manoppello, einem Bergstädtchen
in den Abruzzen. Es ist das verschollene Leitbild Europas. Heute endlich
muss es als wieder entdeckt gelten; es verblasst gegen Licht, es dunkelt
im Schatten, doch es vergeht und verfällt nicht.
Wie ein Häftling aus Abu Ghraib
Es zeigt das bärtige Gesicht eines Mannes mit Schläfenlocken,
dem die Nase angeschlagen wurde wie einer Geisel aus einem der vielen
Folterkeller heutiger „Gotteskrieger“ - oder eines Häftlings
aus Abu Ghraib. Die rechte Wange ist geschwollen, der Bart teilweise ausgerissen.
Stirn und Lippen haben beim nahen Hinsehen das Rosa frisch verheilter
Wunden. Unerklärliche Ruhe liegt im Blick aus weit geöffneten
Augen. Verblüffung, Erstaunen, Verwunderung liegt in seinen Zügen.
Mildes Erbarmen. Keine Verzweiflung, kein Schmerz, kein Zorn.
Ein Mann, der in einen neuen Morgen schaut
Er gleicht dem Gesicht eines Mannes, der gerade vom Schlaf erwacht und
in einen neuen Morgen schaut. Sein Mund ist halb geöffnet. Sogar
die Zähne sind zu sehen. Müsste der Laut bestimmt werden, der
auf den Lippen liegt, dann formen sie gerade ein leises A. Alle Proportionen
zeigen eins zu eins die Maße eines menschlichen Gesichts auf dem
17 mal 24 Zentimeter großen Tuch. Der hauchdünne Schleier ist
durchsichtig wie ein Seidenstrumpf. Mehr als einem gemalten Bild gleicht
es aus der Nähe einem großen Diapositiv. Im Gegenlicht ist
es transparent. Im Schatten, ohne Licht, wirkt es fast schiefergrau.
Gold- und honigfarben, wie das Gesicht Christi
Ein kleiner abgebrochener Kristallsplitter klebt rechts unten im Rahmen
an dem Bild. Im Licht von Glühbirnen ist das zarte Tuch gold- und
honigfarben, gerade so, wie Gertrud von Helfta im 13. Jahrhundert das
Gesicht Christi beschrieben hat. Denn nur im Licht und Kontrast zeigt
das feine Tuch das Antlitz in dreidimensionalen, fast holografischen Lichteffekten
- und zwar von beiden Seiten, nur seitenverkehrt. Es scheint so fein gewebt,
dass es zusammengefaltet in eine Walnussschale zu passen scheint.
Professor Vittori von der Universität in Bari und Professor Fanti
von der Universität in Bologna haben auf mikroskopischen Aufnahmen
entdeckt, dass das gesamte Gewebe keinerlei Farbspuren aufweist. Nur im
Schwarzen der beiden Pupillen wirken die Fasern angesengt, als hätte
Hitze die Fäden hier leicht verschmort. Eine ganz und gar frische
Erkenntnis ist das alles nicht. Denn die Bauern und Fischer der Adria
von Ancona bis Tarent haben diesen Schleier seit Jahrhunderten schon immer
als „Volto Santo“ verehrt, als „Heiliges Gesicht“.
Von (B)engeln in die Hände gespielt …
„Engel“ hätten ihnen das Bild in die Hände gespielt,
glauben die Manoppellesi seit 400 Jahren (und berufen sich dabei auf einen
alten Bericht). Das mag sein. Wahrscheinlich ist aber, dass auch einige
Bengel sich unter jene Engel geschlichen haben, als sie die Reliquie im
dreistesten Bubenstück des an abenteuerlichen Schurkereien nicht
eben armen Zeitalters der Renaissance ganz einfach geklaut haben. Der
zerbrochene Kristall im alten Rahmen der Veronika in Sankt Peter scheint
jetzt noch eine kleine Strophe dieser Moritat zu singen. Die Geschichte
hat etwas von einer Posse, einem Krimi, einem Detektivstück, einem
Drama - und von einem fünften Evangelium für unsere bilderverrückte
Zeit.
Doch als Professor Pfeiffer von Roms Gregoriana-Universität vor Jahren
der Sache im Licht der Kunstgeschichte und früher Quellen der Christenheit
erstmals wissenschaftlich nachging und nachwies, dass das Bild aus Manoppello
Referenzpunkt der ältesten Christusbilder zuerst im Osten und dann
im Westen wurde, erschien dies in der Weltpresse unter „Vermischtes“
- und seine Kollegen und viele Prälaten und Kardinäle im Vatikan
schüttelten die Köpfe über so viel überbordende Professorenfantasie.
Deckungsgleich mit Turiner Grabtuch
Schwester Blandina Paschalis Schlömer, eine deutsche Trappistin,
Pharmazeutin und Ikonenmalerin, hatte den Professor darauf gebracht -
nachdem sie schon Jahre zuvor entdeckt und akribisch nachgemessen hatte,
dass das Gesicht auf dem Tuch von Manoppello millimetergenau deckungsgleich
mit allen Details auf dem schattenhaften Gesicht des Mannes auf dem Grabtuch
von Turin ist, mit den realen Maßen und Proportionen ebenso wie
mit allen Verletzungen, von denen der Gekreuzigte in jenem Tuch gezeichnet
ist - nur ohne die dort noch sichtbaren offenen Wunden.
Dies alles hat die Kritiker der Authentizität des Tuches von Manoppello
nie angefochten, im Gegenteil. Ihr Haupteinwand ist einfach und überzeugend:
Das alles sei gemalt. Es lohne kaum, es auch nur von nahem anzusehen.
Es sei zu fein, um nicht gemalt zu sein. Die Augen, die (erst in der Vergrößerung
sichtbaren) Wimpern, die Tränensäcke, die Barthaare, die Zähne
(!), all das sei schlichtweg zu delikat gezeichnet, um nicht die Hand
eines Künstlers und Meisters zu verraten. Kurz, dieses Objekt sei
nicht etwa ein Vorbild, sondern selbst eine Kopie anderer Kopien eines
unbekannten Originals - oder eben des Originals auf dem Turiner Grabtuch.
Eine bisher selten gestellte, doch entscheidende Frage betrifft allerdings
das Gewebe selbst. Der Konsistenz nach könnte es gefärbtes Nylon
sein, wäre der Gedanke bei einem seit 400 Jahren ausgestellten Tuch
nicht absurd. Baumwolle, Wolle, Leinen sind viel zu dick, um diese immaterielle
Transparenz zuzulassen und den Perlmuttglanz. Selbst Seide lässt
dies nicht zu. Die Kapuziner von Manoppello indessen lassen es nicht weiter
wissenschaftlich und chemisch untersuchen oder auch nur aus dem Glas der
Monstranz herausnehmen, in dem es über ihrem Hauptaltar ausgestellt
ist.
„Die Wissenschaft kommt uns entgegen“ …
„Nicht nötig!“, sagte mir vor Wochen Pater Germano, der
letzte Guardian des Konvents. „Die Wissenschaft kommt uns entgegen.
Sie entwickelt sich so schnell, dass wir nur abzuwarten brauchen.“
Das stimmt wohl. Viele Fotos, die ich in den letzten Monaten mit meiner
Digitalkamera von dem Bild machen konnte, habe ich so zuvor noch nirgendwo
von dem Gewebe gesehen. Von zwei Tüchern spricht das Johannes-Evangelium
im Bericht vom leeren Grab Christi in Jerusalem. Petrus und „der
andere Jünger“ liefen nach dieser Quelle in der Frühe
zum Grab. Der „andere Jünger“ war schneller am Ort.
„Er beugte sich vor und sah die Leinenbinden liegen, ging aber nicht
hinein. Da kam auch Simon Petrus, der ihm gefolgt war, und ging in das
Grab hinein. Er sah die Leinenbinden liegen und das Schweißtuch,
das auf dem Kopf Jesu gelegen hatte; es lag aber nicht bei den Leinenbinden,
sondern zusammengebunden daneben an einer besonderen Stelle. Da ging auch
der andere Jünger, der zuerst an das Grab gekommen war, hinein; er
sah und glaubte.“ Für dieses so genannte Schweißtuch
aus dem leeren Grab haben die Bewohner Manoppellos das Bild immer gehalten,
obwohl es nicht die geringsten Schweißspuren zeigt. Es ist ja auch
viel zu dünn, um nur einen Tropfen Blut oder Schweiß aufzufangen.
Von Beslan nach Pescara
Rom, 1. September 2004, Flughafen Fiumincino. Eine frische Brise vom nahen
Mittelmeer kühlt den Spätsommermorgen. 07.35 zeigt die Uhr der
Halle A, als die Alitalia-Maschine AZ 1570 aus Cagliari draußen
auf der Rollbahn aufsetzt. Minuten zuvor haben Terroristen im fernen Beslan
eine Schule gestürmt, zum grauenhaftesten Verbrechen seit dem 11.
September 2001. Apokalyptische Gräuel sind das tägliche Brot
vieler Reporter der Erde geworden. Ich aber habe an diesem Morgen keine
Nachrichten gehört. Auch später auf der Autostrada nach Pescara
werde ich das Radio nicht einschalten. Reporter haben es leicht, geht
es mir in der Ankunftshalle durch den Kopf. Sie müssen nichts beweisen.
Sie sind keine Richter, Anwälte oder Lehrer. Reporter dürfen
nur berichten von Dingen, die sie tagelang, bei jedem Licht, umkreist
und beobachtet haben.
Als Chiaro Vigo die Sperre durchschreitet, erkenne ich sie gleich, obwohl
ich sie noch nie gesehen habe. Pier Paolo Pasolini hätte jeden Film
mit ihr in einer Hauptrolle besetzen können. Ihre Fingernägel
sind Spindeln. Sie kommt von der kleinen Insel Sant’Antioco vor
der sardischen Küste, wo sie die letzte lebende Byssus-Weberin der
Erde ist, in ungebrochener Tradition seit vielen Generationen. „In
unserem Volk ist Byssus ein heiliges Gewebe“, sagt sie im Auto.
Was soll das heißen, „in unserem Volk“? Zählt die
Insel nicht einfach zu Sardinien? Nein, lacht sie rau. Sie spreche Sardisch
und Italienisch und kenne viele aramäische Lieder.
Das Gold der Meere
Die Bevölkerung leite sich von Chaldäern und Phöniziern
ab und führe die Kunst der Byssus-Gewinnung auf die Prinzessin Berenike
zurück, eine Tochter des Herodes, die zur Geliebten von Kaiser Titus
wurde. Dann hält sie ein Büschel von unversponnenem rohem Byssus
ins Morgenlicht, feiner als Engelshaar. Das Gold der Meere! In ihrer Hand
leuchtet es bronzen in der Sonne. Das Gewebebüschel ist aus den Haftfäden
„edler Steckmuscheln“ gewonnen, nach denen sie im Mai bei
Vollmondlicht fünf Meter tief taucht, um sie danach zu kämmen,
zu spinnen und zu Preziosen zu verweben.
Das kostbarste Gewebe der Antike
Byssus ist das kostbarste Gewebe der Antike. Es taucht in Pharaonengräbern
auf und in der Bibel, wo es erstmals für die Teppiche des Allerheiligsten
und den „Ephod“, das hohepriesterliche Gewand des Obersten
Priesters, obligatorisch vorgeschrieben wird. Im Zitronenbad wird es golden.
Früher, in einem Urinbad von Kühen, wurde es eher blasser, heller.
Wir fliegen über die Autobahn nach Manoppello. Schwester Blandina
erwartet uns auf dem Hügel des Heiligtums. Als wir auf dem Mittelgang
die Orgelattrappe an der Rückwand der Kirche hinter uns lassen, leuchtet
das „Volto Santo“ im Gegenlicht wie eine milchige, rechteckige
Hostie über dem Tabernakel. Ein Fensterkreuz aus dem Chor schimmert
durch das Gewebe.
Die Augen eines Lammes und eines Löwen
Chiara Vigo fällt auf die Knie, nachdem wir hinter dem Altar die
Stufen zu dem Bild hochgestiegen sind. Einen Schleier, so fein gewebt,
hat sie noch nie gesehen. „Er hat die Augen eines Lammes“,
sagt sie und bekreuzigt sich. „Und eines Löwen.“ Und
dann: „Das ist Byssus!“ Chiara Vigo sagt es ein Mal, zwei
Mal, drei Mal. Byssus lasse sich mit Purpur färben, hat sie schon
im Auto erzählt. „Doch Byssus lässt sich nicht bemalen.
Es ist unmöglich. O Dio! O Dio mio!“ Das ist Byssus - das heißt:
Es ist kein gemaltes Bild. Es ist etwas anderes. Etwas vor allen Bildern.
Text (c) by Paul Badde / Die Welt.
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